Klangwelten – Sprachwelten
Der vorhergegangene BLOGBEITRAG endet so:
Wenige hundert Jahre erst kann ein Grossteil der Europäer lesen und schreiben. Kurz im Vergleich zu der Million Jahren unserer Menschen-Existenz lebt diese «Literatur». Jedoch: Erzählen, singen, die Welt neu erschaffen, etwas mitteilen. Wie lange machen wir Menschen das schon? Ein Kapitel in meinem kürzlich erschienenen Roman «Freundschaft Genossin» beschäftigt sich mit verlorenen Liedern, Jagdmagie und Tänzen – und mit dem unsichtbaren Aspekt des Erzählens. Es beginnt auf Seite 94, ist Noras Beitrag zum ‘Lebenden Theater’ und heisst: «Unsichtbares Weben».
Dieser neue BLOGBEITRAG setzt fort mit einem Auszug aus jenem Kapitel «Unsichtbares Weben»:
(Seite 96) «Das Theaterstück, genannt ‘Unsichtbares Weben’ kann beginnen», ruft Noras Stimme aus den Lautsprechern. Die Schauspielerin erscheint auf einem Fels-Vorsprung, der etwa zwei Meter höher liegt als die Lichtung und wie ein natürlicher Balkon aussieht.
Sie schaut auf die Wiese hinunter. Dann wendet sie sich der Figur aus feinmaschigem Drahtgitter zu, die neben ihr am Rand des Balkons sitzt. Die lebensgroße Figur erscheint weiblich, hat menschliche Formen. Dort, wo das Drahtgerüst nicht mit Lehm überzogen oder bekleidet ist, kann man teilweise durch das geformte Gitter durchblicken. Die großen Hände und Füsse, die Knie und der Kopf sind aus Tonerde, die das Gestell teilweise überzieht. Vielfarbig glitzernder Stoff deutet ein Kleid an, das den Oberkörper und die Schenkel der Figur bedeckt. Das aus Ton grob geformte Gesicht ähnelt einer archaischen Maske. Sie ist sparsam mit Farbe bemalt, hat große Augen. Der Mund der Figur ist leicht geöffnet, die Lippen sind rot. Lockiges Haar umrahmt das Gesicht, es sieht aus wie eine dunkle Perücke. Silvia und Nora haben mit wenig Material eine magische Figur geschaffen, die in diesem Moment auf die Wiese hinunterzublicken scheint.
Nora trägt einen anliegenden schwarzen Overall, das halblange graublonde Haar ist hochgesteckt. Ohrringe mit Bergkristallen als Anhänger blitzen im Abendlicht. An die Zuschauer gewendet beginnt die Schauspielerin zu sprechen: «’Unsichtbares Weben’ heisst dieses Theaterstück. Darin will ich die Spurlosigkeit der gesprochenen Sprache und die Unsichtbarkeit vergangener Gesänge erforschen. Verschwunden sind die Lieder der Menschen, die vor tausenden Jahren rund um diesen See und in den Bergtälern lebten. Verschwunden sind auch die Worte derjenigen, die unten auf Booten über das Wasser fuhren. Tausende Jahre von Klängen – ich kann sie nicht mehr hören und ich kann sie auch nicht zurückholen.»
(Seite 98 – 100)
Nora, die Figurenspielerin, bewegt jetzt vorsichtig den langen Stock und damit den Kopf der Klangweberin. Langsam heben sich dabei auch deren Hände. Aus dem Lautsprecher klingt Noras klanglich veränderte Stimme, während sich weiterhin der Kopf ihrer Figur bewegt, als würde diese sprechen. «Wisst ihr, wie Bäume klingen, dass die Gräser helle Töne ausstrahlen, dass das Schweigen einer Fledermaus laut ist? Versteht ihr die Sprache einer Katze, eines Panthers? Könnt ihr die Spuren der gesprochenen Sprache auf diesem Planeten lesen? Wisst ihr, wie die letzten Urwälder klingen, oder das Polareis? Kennt ihr die Musik der Ozeane, die Harmonie eines Fischschwarms? Wisst ihr, dass Steppen atmen, bevor sie ihre kleinen Schreie loslassen? Hört ihr den Wolkenklang, bevor der Regen fällt?
Menschen, ihr kennt eure Stimmen und die Klänge einiger Dinge, doch diese große Welt, deren Teil ihr seid, klingt vielgesichtig. Ihr hört sie kaum. Sprechen, singen, die Frösche im Weiher, Flügelschläge im Wald, der Sturm in der Schlucht, ein Haus, jeder Menschenkörper, alles, was lebt, erzeugt Klangwellen. Ich kann sie sehen, mich an ihnen erfreuen. Wenn ich will, kann ich einige davon ernten und weben. Manchmal spinne ich vielfarbige, lockere und strahlende Klangstränge, andere sind flach, dünn oder beinahe fest. Die Musik der Städte ist oft unbrauchbar für Klangweberei. Immer wieder sind Geräusche nur noch als farblose Teilstücke. Manchmal webe ich bereits im Entstehen zerfallende Satelliten-Melodien. Es ist nicht nur wegen des Menschenlärms, der sich bis hinauf in die Stratosphäre ausbreitet. Die Farbpalette der Erd-Klänge selbst scheint plötzlich verarmt.
In diesem kurzen Stück Zeit hier an der Felswand wollen wir gemeinsam Klang-Energie erleben – einen kurzen Atemzug im Klanguniversum eurer Menschheitsgeschichte. Vielleicht kann ich später daraus etwas für euch Theatermenschen im Lebendigen Theater weben.
Stille ist ein guter Faden für das Klangweben. Gute Stille ist selten geworden. In diesem Moment, jetzt, sprechen, schreien, singen oder flüstern wahrscheinlich gleichzeitig Milliarden von Menschen auf diesem Planeten. Das Lied der Erde selbst war schon immer ein flüchtiges Gewebe. Auf der Suche nach stabilen Webstücken verband ich Menschenklänge, Maschinenlärm, Flussklänge, Regentropfen und Waldgesang – nichts blieb je bestehen.»
Laut und theatralisch klingt Noras Stimme als die Stimme der Klangweberin aus den Lautsprechern. Im mobilen Tonstudio mit einem zarten Echo versehen und leicht verzerrt, streift sie über die Waldwiese. Die Stimme der Berufsschauspielerin ergreift den Raum zwischen Felswand und Hochwald, hallt die viele Millionen Jahre alten Bergwände hinauf. Das Lebendige Theater hat eine neue Wende genommen.
Erstes Abendlicht beleuchtet rötlich den Felsenbalkon, auf dem Nora neben ihrer Theaterpuppe steht und nun langsam und konzentriert zwei der Stöckchen sinken lässt und auf den Boden legt. Die Hände der Klangweberin sinken in ihren Schoß. Nora nickt der Figur zu, befestigt auch den Stock, an dem deren Kopf steckt, richtet sich dann auf. Sie tritt nach vorne, blickt auf die Wiese hinunter, spricht direkt zum Publikum: «Wir sind vibrierende Klangwesen. Wir sind Lichtwesen. Daran sollen wir uns immer wieder erinnern. Wir können einander kräftigen oder zerstören. Wir haben die Wahl. Mein Wunsch für eine schönere Welt für uns alle ist, dass wir uns immer mehr unserer tiefen, der mit uns gemeinsam geborenen Liebe zuwenden. Es soll der Tag kommen, an dem jede von uns wieder spürt, wie sehr wir mit allen anderen und mit allem auf dieser Erde verbunden sind.»
Sie hält kurz inne, schaut über den Wald.
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04.08.2025