Blog

Erzählung formt Kultur

10.07.2021 Allgemein Keine Kommentare

Das was wir einander erzählen formt die Art, wie wir unsere Kultur wahrnehmen und erschaffen. Diese Meinung vertritt der Biologe und Mitbegründer der Systemtheorie Humberto R. Maturana in einigen Essays in dem Buch, das ich gerade lese. «Liebe und Spiel. Die vergessenen Grundlagen des Menschseins» ist 1993 im Auer-Verlag erschienen.

 

 

Das Buch ist zwar schon dreissig Jahre alt, doch für mich ist es heute, in Pandemie-Zeiten, so aktuell wie damals. Ich bin seit ihrem Entstehen von der Systemtheorie fasziniert. Sie hat sich im 21. Jahrhundert durchgesetzt und weiterentwickelt. Bis heute ist sie für mich ein ein wichtiges Instrument nicht nur zum philosophischen, sondern auch im alltäglichen Verständnis der Welt, in der ich lebe und in er ich Problemen begegne – einem Baum, einer Gruppe Menschen, mir selbst im Spiegel.

Was für mich als Geschichtenerzählerin in diesem Buch «Liebe und Spiel» interessant und wichtig ist, sind die Beschreibungen von Maturana wie Kultur entsteht. Er vertritt die Sicht, dass sie aus einer fortgesetzten Konversation in den letzten drei Millionen Jahren entstanden ist. Bereits im Vorwort wurde meine Neugierde geweckt, da «Freundschaft Genossin», der neue Roman, an dem ich schreibe, unter anderem das «Sich-gegenseitig-etwas-Erzählen» zum Thema hat. Schon beim Lesen des Vorworts spürte ich: hier habe ich lang benötigte Inspiration gefunden! Deshalb widme ich der Lektüre dieses Buches auch diesen BLOG-Beitrag über das Entstehen eines Romans.

Aus der Einleitung: «Wir gehen davon aus, dass alles, was wir Menschen tun, in Sprache geschieht, verflochten mit einer bestimmten Form des Emotionierens. Dass das, was wir tun, ein bestimmtes Netzwerk von Konversationen bestimmt.

Aus diesem Grund nehmen wir an, dass die Geschichte der Menschheit nicht bestimmt wurde von materiellen Möglichkeiten, Naturschätzen, Ideen, Werten oder Symbolen, sondern von menschlichen Wünschen, von menschlichem Emotionieren. Materielle Naturschätze, Ideen, Werte oder Symbole sind das, was sie für uns sind. Sie sind nicht aus sich selbst heraus. Naturschätze sind Naturschätze weil wir es wünschen, weil wir sie als Naturschätze unterscheiden, indem wir von ihnen als Naturschätze sprechen.»

«Um den Verlauf unserer Geschichte als menschliche Wesen verstehen zu können, müssen wir den Verlauf der Veränderung menschlichen Emotionierens betrachten, und um den Verlauf der Veränderung menschlichen Emotionierens erschliessen zu können, müssen wir auf den Verlauf der Geschichte der Konversationen blicken, die durch die veränderte Emotionierung erklärt wird.»

Im Weiteren fand ich in dem Buch Betrachtungen der kreisförmigen Entstehung unseres Menschseins als Folge unseres Wünschens und veränderter «Konversationen».

Im Glossar wird der Begriff der «Konversation» folgendermassen beschrieben:

Die Verflechtung von Sprachhandlung und Emotionieren, in der sich alle menschlichen Tätigkeiten ereignen. Wir menschliche Wesen leben in Konversationen, und alles, was wir tun, ereignet sich in Konversationen.»

 Ich schreibe hier so ausführlich darüber, weil ich in Gesprächen mit Lesern meiner Bücher bemerkt habe, dass viele von den «Lesenden» glauben, ein Buch entsteht spontan als eine Geschichte, die aus der Autorin, dem Autor, hervorsprudelt und dannach noch ein wenig überarbeitet wird. Zumindest in meinem Schaffensprozess, aber soviel ich auch aus persönlichem Austausch, oder aus den Arbeitstagebüchern vieler Kunstschaffender weiss, ist der Prozess sehr vielfältiger und es dauert oft lange Zeit, bis ein Thema, eine Inspiration, eingekreist und verarbeitet ist.

Ich beginne bei meiner Kunst-Arbeit mit einigen Vorgaben oder Wünschen. Oft sind es nur Wünsche und Ahnungen davon, was ich Erzählen möchte. Oft sind ganz am Anfang auch noch einige sehr vage Ideen dabei, beispielsweise im «Pilgerweg heim», dass ich die Thematik des Kinderbuchs «Heidi» in derselben Landschaft, in der die Handlung des Kinderbuchs angesiedelt ist, ins 21. Jahrhundert und mit älteren Menschen nachspielen wollte. Im Verlauf der ersten Skizzen beim Schreiben eines neuen Projekts verlieren sich dann einige der Ideen, andere werden konkret, neue kommen dazu. Danach kann es sein, dass ich auf mehr Inspiration warte, weil ich spüre, dass für die Fertigstellung noch ein wesentlicher Teil fehlt.

Im Falle dieses Buches «Liebe und Spiel» blicke ich nach der Lektüre aus einer neuen Richtung wieder auf «Freundschaft Genossin». Vor Kurzem erst habe ich beschlossen, dass diese Art des Zusammenseins, der Akt des «einander-etwas-Erzählens» im Mittelpunkt des neuen Buches stehen wird.

 

Regenwolken, Juli 2021

An diesem Punkt bin ich nun angekommen, inspiriert von der «Kulturgeschichte des Erzählens», wie ich sie in dem oben beschriebenen Buch gefunden habe. Sie weist weit über das einfache Sprechen oder Schreiben hinaus, dorthin, wo ich oft hinziele, wenn ich schreibe: in den unsichtbaren Bereich vielfältig verflochtener Energien, der uns als Einzelnen und auch als Gesellschaft nährt.

In diesem und den vorhergehenden BLOG Beiträgen erzähle ich von dem Prozess zu erzählen, der das Schreiben eines Romans begleitet.

10.07.2021

Tags:





Vorheriger Artikel
Nächster Artikel

Die Kommentare sind geschlossen.