Tagebuch-Eintrag und Erzählung
Der wesentliche Unterschied zwischen dem Tagebuchschreiben und einer Erzählung besteht darin, dass im Tagebuch keine Fiktion aufgebaut werden soll.
Während ich in einer italienischen Autobahnraststätte einen Capuccino trank, schaute ich auf den Bildschirm, der vor mir auf einer Säule angebraucht war. Es liefen sehr kurze Werbefilme. In wenigen Sekunden und mit wenigen Aufnahmen wurde da eine Geschichte erzählt: Glückliche und schöne Menschen in einer sehr sonnigen Landschaft geniessen dieses ganz bestimmte Produkt.
Das ist eine gute Möglichkeit, den Unterschied der Erzählweise in einem Tagebuch und in einer Erzählung zu erklären:
1) Erzähle ich für jemandem anderen eine Geschichte, lege ich die Beschreibung so an, dass der Leser oder die Zuhörerin dazu gebracht wird, die Geschichte auf die Art zu verstehen, wie ich sie verstanden haben möchte. Ich erzeuge mit Wörtern Bilder, die ihrerseits wieder Bilder und Assoziationen im Leser auslösen. Ich manipuliere die Wörter, um die Welt dorthin zu erzählen, wo ich sie – für die Leserin, den Leser – haben will. Das ist die Grundlage jeder Erzählung.
2) Im Tagebuch lasse ich die Gedanken und Beschreibungen von Ereignissen, die spontanen Gedichte oder die Skizzen von Orten einfach fliessen. Ich schreibe ohne Beschönigungen und ohne etwas wegzulassen. Ich schreibe nur für mich selbst und für niemanden anderen. Möglicherweise werde ich das Tagebuch auch nie wieder ansehen. Es geht um den Akt des Schreibens selbst und um Bewusstwerdung.
Natürlich schreiben wir im Tagebuch aus der Perspektive unseres momentanen Selbstbildnisses. Doch das kann sich ändern. Die Übungen in meinen Tagebuch-Kursen sind darauf ausgelegt, inneres Wachstum zu fördern. Das Risiko neuer Blickwinkel auf sich Selbst wird gesucht.
Ein spannendes Abenteuer kann dann beginnen!
02.08.2019