Karin Koppensteiner 10.06.2022 Allgemein Keine Kommentare
Worum geht es in meinen Blog-Beiträgen? An dieser Stelle stand bisher oberhalb oder unterhalb des Haupttextes eine kurze Beschreibung: «Meine BLOG-Beiträge sind seit dem Jahr 2020 der Entstehung meines Buch-Projektes «Freundschaft Genossin» gewidmet.» Seit einigen Tagen befinde ich mich in die Endphase der Arbeit an diesem Text. Wenige Blog-Beiträge zu diesem Buch wird es noch geben. Ist der Text fertig, beginnt eine neue Zeit für mich. Der letzte Teil der Trilogie wird dann abgeschlossen sein.


Die Mohnblüten in unserem Gemüsegarten weisen mir den Weg. Ich schreibe: «Es ist ein Tag in der Mohnblumenzeit.» Mit diesem Satz beschreibt die fiktive Autorin den Tag, an dem sie damit beginnt, die zerborstenen Kulissen des kleinen Welttheaters am Grünen See wieder zusammenzudichten.
Die Arbeit am dritten Band der Trilogie dauert nun bereits zweieinhalb Jahre, so lange ungefähr erzähle ich auch in diesem BLOG über das Projekt «Freundschaft Genossin!» Ich wollte in diesen BLOG-Beiträgen die Arbeit einer Autorin, also von mir, für die LeserInnen und für Schreib-Interessierte greifbarer machen.
«Ich will den Text endlich abschliessen!» Immer öfter in den letzten Monaten wartete ich beinahe schon ungeduldig, dass das Ende sich zeigen würde. Die Geschichten, welche die ProtagonistInnen einander im Gemüsegarten unterhalb des Seehotels erzählten, waren alle aufgeschrieben. Mit dem einen, dem zu vielten, Krieg in Europa, und den vorhergegangen, sich über Jahre hinziehenden Social-Media-Manipulationen haben sie ihre Unschuld verloren. Es hatte mir einige Tage die Sprache verschlagen.
Beinahe zufällig kamen die Rhinozerosse ins Geschehen! Sie erschienen gleichzeitig mit der heftigen Ernüchterung der Autorin: Wie kann ich in Zeiten, wo Lüge und Wahrheit verwoben erscheinen, in einer glitschigen Symbiose vereint, als unwirklich schillernde Neugeburten von schrecklichen Welten in Erscheinung tretend – wie kann ich in diesen Zeiten eine «eindeutige» Geschichte erzählen wollen?
Die Kulissen am Grünen See waren definitiv zerrissen. Sollte ich aufgeben?
Kurze Zeit später trieb eine Autorin in einem alten Boot auf dem Grünen See. «Ich sitze in dem Boot, das sonst meine ProtagonistInnen benutzen», schrieb sie, «Ich schaue zur Felswand hinüber. Alles scheint äusserlich so wie immer zu sein.»
Die surrealen Ereignisse, die zur Zerstörung des kleinen Welttheaters am kleinen See und fast aller Kulissen geführt hatten, konnte sie nur ahnen – und dokumentieren.
Damit begann im Mai 2022 eine neue Version von «Freundschaft Genossin». Eine fiktive Autorin der Geschichten meldet sich zu Wort. Sie mischt sich, sichtbar und hörbar geworden, in ihre Geschichte ein. Sie erzählt davon, wie es war, als die Rhinozerosse aus dem Wald kamen und wie es ist, Geschichten zurückerobern zu müssen, die bereits geschrieben waren. (Mehr zum Erscheinen der Nashörner kann in den beiden vorhergehenden BLOG-Beiträgen nachgelesen werden.) Eine ihrer Fragen steht am Anfang: «Wird es später noch Geschichten geben?»
Ich stellte in der Folge noch weitere Fragen: «Werden sich, in dieser Zeit surrealer Sprachfische aus dem Internet, überhaupt noch Geschichten zeigen? Oder werden sie sich vor uns Menschen verbergen, so wie es bereits die Drachen, die Weisen und die Liebenden tun?»
Eine weitere Frage, der ich begonnen hatte nachzugehen, tauchte auf als ich in meinem Arbeitstagebuch vom April blättere und mehrere Zeichnungen von Einhörnern und Rhinozerossen fand. Einem dieser Mischwesen hatte ich Flügel gezeichnet und daneben geschrieben:
«Sind geflügelte Rhinozerosse Komiker?»

The Marx Brothers
Wenig später tauchte dann für mich die Antwort auf, als ich an einem Nachmittag ganz ohne Absicht in einem bequemen Liegestuhl im Halbschatten lag und in den blauen Himmel hinaufschaute: «Ja, sie könnten Komiker sein, – anarchisch-zerstörerisch-unschuldig auf die Geschichten einwirken, ein bisschen wie die Marx Brothers.» Ich sah in der Erinnerung einige Szenen von Filmen, die ich vor vielen Jahren mit viel Aufmerksamkeit und mehr als einmal angesehen hatte.
Die fliegenden Nashörner könnten das Element der Zerstörung und Ausrottung poetisch-clownesk transformieren und so das Erscheinen jener neuen Welt vorbereiten, von dem meine jugendlichen ProtagonistInnen sagen, es könnte «die schönere Welt sein, die mein Herz kennt».
Und: Vielleicht könnten sie wirklich fliegen!?
Karin Koppensteiner 10.07.2021 Allgemein Keine Kommentare
Das was wir einander erzählen formt die Art, wie wir unsere Kultur wahrnehmen und erschaffen. Diese Meinung vertritt der Biologe und Mitbegründer der Systemtheorie Humberto R. Maturana in einigen Essays in dem Buch, das ich gerade lese. «Liebe und Spiel. Die vergessenen Grundlagen des Menschseins» ist 1993 im Auer-Verlag erschienen.

Das Buch ist zwar schon dreissig Jahre alt, doch für mich ist es heute, in Pandemie-Zeiten, so aktuell wie damals. Ich bin seit ihrem Entstehen von der Systemtheorie fasziniert. Sie hat sich im 21. Jahrhundert durchgesetzt und weiterentwickelt. Bis heute ist sie für mich ein ein wichtiges Instrument nicht nur zum philosophischen, sondern auch im alltäglichen Verständnis der Welt, in der ich lebe und in er ich Problemen begegne – einem Baum, einer Gruppe Menschen, mir selbst im Spiegel.
Was für mich als Geschichtenerzählerin in diesem Buch «Liebe und Spiel» interessant und wichtig ist, sind die Beschreibungen von Maturana wie Kultur entsteht. Er vertritt die Sicht, dass sie aus einer fortgesetzten Konversation in den letzten drei Millionen Jahren entstanden ist. Bereits im Vorwort wurde meine Neugierde geweckt, da «Freundschaft Genossin», der neue Roman, an dem ich schreibe, unter anderem das «Sich-gegenseitig-etwas-Erzählen» zum Thema hat. Schon beim Lesen des Vorworts spürte ich: hier habe ich lang benötigte Inspiration gefunden! Deshalb widme ich der Lektüre dieses Buches auch diesen BLOG-Beitrag über das Entstehen eines Romans.
Aus der Einleitung: «Wir gehen davon aus, dass alles, was wir Menschen tun, in Sprache geschieht, verflochten mit einer bestimmten Form des Emotionierens. Dass das, was wir tun, ein bestimmtes Netzwerk von Konversationen bestimmt.
Aus diesem Grund nehmen wir an, dass die Geschichte der Menschheit nicht bestimmt wurde von materiellen Möglichkeiten, Naturschätzen, Ideen, Werten oder Symbolen, sondern von menschlichen Wünschen, von menschlichem Emotionieren. Materielle Naturschätze, Ideen, Werte oder Symbole sind das, was sie für uns sind. Sie sind nicht aus sich selbst heraus. Naturschätze sind Naturschätze weil wir es wünschen, weil wir sie als Naturschätze unterscheiden, indem wir von ihnen als Naturschätze sprechen.»
«Um den Verlauf unserer Geschichte als menschliche Wesen verstehen zu können, müssen wir den Verlauf der Veränderung menschlichen Emotionierens betrachten, und um den Verlauf der Veränderung menschlichen Emotionierens erschliessen zu können, müssen wir auf den Verlauf der Geschichte der Konversationen blicken, die durch die veränderte Emotionierung erklärt wird.»
Im Weiteren fand ich in dem Buch Betrachtungen der kreisförmigen Entstehung unseres Menschseins als Folge unseres Wünschens und veränderter «Konversationen».
Im Glossar wird der Begriff der «Konversation» folgendermassen beschrieben:
Die Verflechtung von Sprachhandlung und Emotionieren, in der sich alle menschlichen Tätigkeiten ereignen. Wir menschliche Wesen leben in Konversationen, und alles, was wir tun, ereignet sich in Konversationen.»
Ich schreibe hier so ausführlich darüber, weil ich in Gesprächen mit Lesern meiner Bücher bemerkt habe, dass viele von den «Lesenden» glauben, ein Buch entsteht spontan als eine Geschichte, die aus der Autorin, dem Autor, hervorsprudelt und dannach noch ein wenig überarbeitet wird. Zumindest in meinem Schaffensprozess, aber soviel ich auch aus persönlichem Austausch, oder aus den Arbeitstagebüchern vieler Kunstschaffender weiss, ist der Prozess sehr vielfältiger und es dauert oft lange Zeit, bis ein Thema, eine Inspiration, eingekreist und verarbeitet ist.
Ich beginne bei meiner Kunst-Arbeit mit einigen Vorgaben oder Wünschen. Oft sind es nur Wünsche und Ahnungen davon, was ich Erzählen möchte. Oft sind ganz am Anfang auch noch einige sehr vage Ideen dabei, beispielsweise im «Pilgerweg heim», dass ich die Thematik des Kinderbuchs «Heidi» in derselben Landschaft, in der die Handlung des Kinderbuchs angesiedelt ist, ins 21. Jahrhundert und mit älteren Menschen nachspielen wollte. Im Verlauf der ersten Skizzen beim Schreiben eines neuen Projekts verlieren sich dann einige der Ideen, andere werden konkret, neue kommen dazu. Danach kann es sein, dass ich auf mehr Inspiration warte, weil ich spüre, dass für die Fertigstellung noch ein wesentlicher Teil fehlt.
Im Falle dieses Buches «Liebe und Spiel» blicke ich nach der Lektüre aus einer neuen Richtung wieder auf «Freundschaft Genossin». Vor Kurzem erst habe ich beschlossen, dass diese Art des Zusammenseins, der Akt des «einander-etwas-Erzählens» im Mittelpunkt des neuen Buches stehen wird.

Regenwolken, Juli 2021
An diesem Punkt bin ich nun angekommen, inspiriert von der «Kulturgeschichte des Erzählens», wie ich sie in dem oben beschriebenen Buch gefunden habe. Sie weist weit über das einfache Sprechen oder Schreiben hinaus, dorthin, wo ich oft hinziele, wenn ich schreibe: in den unsichtbaren Bereich vielfältig verflochtener Energien, der uns als Einzelnen und auch als Gesellschaft nährt.
In diesem und den vorhergehenden BLOG Beiträgen erzähle ich von dem Prozess zu erzählen, der das Schreiben eines Romans begleitet.