Kleiner Gurken-Gesang
Tagebuch schreiben kann auch eine Kunstform sein, Dokumentation des Einfachen. Ich dokumentiere einen Moment der Inspiration oder beschreibe einfach das, was ist. Ein veröffentlichtes Tagebuch könnte man als Vorläufer der YouTuber-Kultur betrachten. Ich schrieb eine Zeitlang ein «Pflanzen-Tagebuch», hier ist ein Auszug daraus:
In meinem Gemüsegarten gibt es viele Welten für sich, Tierwelten, Erdwelten, unterirdische Welten, Pflanzenwelten und Zwischenwelten. Ein Universum ist jenes der Klettergurken. Kreativ und scheinbar ungebremst wuchern sie, wenn genug Wasser und Bodennahrung vorhanden ist. In einem Geschäft kaufe ich Gurken (lat. Cucumis sativus) aus dem ewigen Glashaus eher nicht. Meine kleinen Cornichon-Pflanzen jedoch finden jedes Jahr wieder Platz im Gemüsegarten. Sie ranken sich wie reine Poesie um von mir gestaltete Gerüste aus Bambusstöcken, in einem Jahr, oder aus Haselholz, in einem anderen Jahr.
Gurken sind Beeren, erfahre ich in Wikipedia, nicht ganz zu meiner Überraschung, und zwar «Panzerbeeren». Ihre Schalen sind ja oft hart, ganz anders als die Schalen der schwarzen Johannisbeeren, die heute am Gartenzaun überreif an den Ästen ihres Strauches hängen.
Meine kleinen Gurken haben nicht nur eine hell-dunkel gestreifte Schale, oder sind dunkelgrün wie Tannennadeln, sie haben auch feste Stacheln. Stacheln, die biegsam sind und zäh, die in meiner Handfläche hängen bleiben wenn ich die Gurken zu heftig von ihrem Strauch wegreiße. Diese Stacheln wasche ich von der Schale einer Gurke weg, bevor ich sie über meine Lippen hinwegziehen lasse, die süssen, kleinen, saftigen schmackhaften Cornichon-Stückchen, direkt auf meine Zunge, hinein in meinen Mund, ungeschält.
Was ihren Namen betrifft, Gurke, so kommt er angeblich aus dem Slawischen – oder aus dem Mittelgriechischen. Das bedeutet, dass die Gurken wahrscheinlich bei uns in Mitteleuropa bis ins 16. Jahrhundert unbekannt waren. Kein deutschsprachiges Wort für eine fremde Frucht. Es gibt seltsame alte Namen für diese grüne Beere: «Umurke», das war in Wien noch gebräuchlich, als ich ein Kind war. «Gugummere» wurde sie in der Schweiz genannt, und im süddeutschen Raum „Guckummer».
Die Botaniker haben eine Gurkentheorie, nach der die Urahnen aller Gurken ursprünglich aus einer Wildform in Indien gezüchtet worden war, vor etwa 2000 Jahren. Abweichungen von dieser Theorie liefern Genetiker. Ihre Theorie lautet, dass die einzige Gurke mit ähnlicher Genetik wie unsere Gartengurke aus Afrika stammt. Weil Indien und Afrika die letzten 2000 + Jahre etwas weit auseinander liegen und Wissenschafter sich ungern Blößen geben, wird die Herkunft nicht besonders erwähnt. Man bleibt vage im Osten – Balkan oder Griechenland – dort liege der Ursprung der Gurke.
Meine Meditation vor dem Gurkengerüst ist einfacher: Die Gurke ist hier, sie wächst. Alles ist so vollkommen – die kleinen gelben Blüten, schon borstig auch sie, die haarigen Blätter und Ranken, die kratzigen Stengel und Stengelchen; die winzigen und die kleinen Gurken, die größeren und sogar ein wenig zu früh gelbrandig geworden Blätter im Gewirr der Pflanze.