Direkt wahrnehmen
«Mein Wahrnehmen» – es geschieht in einem vielschichtigen Prozess, der mit Lernen, Erziehung und Lebenserfahrung zu tun hat. Seit langem schon gibt es Theorien und Philosophien über Wahrnehmung und Sprache. Man denke nur an Wittgenstein, zum Beispiel. Um Sprache zu prozessieren benötigen wir einen menschlichen Körper, Bildung und Ausbildung des Gehirns, funktionierende Nervenzellen, Training, einen Wortschatz und trotzdem – es erscheint mir manchmal wie ein Wunder: Ich sehe einen Aprikosenbaum voller Früchte, die orangefarben, oval, in Blättern versteckt am Holz des Baumes hängen. Danach kann ich das aufschreiben, doch zuerst ist direktes Wahrnehmen.
Im letzten Winter habe ich die Welt oft farblos erlebt, misstönig und stumpf, ohne wundern, die Farben schon etwas abgeschabt. ‚Eine leichte depressive Verstimmung?’ habe ich mich im Februar gefragt, ‚oder Müdigkeit?’ Jetzt – fünf Monate später – lese ich darüber in meinem Tagebuch. Ich sitze an einem Regentag in meiner Juli-Welt. Sie ist in ganzer Vielfalt lebendig vorhanden, einfach, direkt und voller Details wahrnehmbar. Mit allen Sinnen kann ich diese Welt erleben: Gerüche (Viehgülle und Lindenblüten), Temperatur (eher kühl), Geräusche (Stille, gelegentliches Blattrauschen). Der Blick geht aus meinem Atelier durchs schmale hohe Fenster in eine Vielfalt grüner Blätter verschiedener Bäume und Büsche (wilde Pflaume, Haselnuss, Kirschbaum, Holunder, Zwetschkenbäumchen, dahinter Gras).
Hier sind die Farben und Empfindungen des Sommers. Ist es andere Wortwahl als im Winter? Sommerbilder entstehen durch Schrift: das kühle Seewasser auf der Haut beim Schwimmen. Die Wasseroberfläche entlangschauend, mich schwimmend fortbewegend im See. Weithin ist flaschengrün, ich bin darüber, ich bin darin. Ein Moment innerer Stille, noch einer, wohlsein. Schauen ohne sagen, schauen ohne beurteilen. War es so, als ich ein Kind war? Ich kenne dieses wortlose Schauen von meinen Meditations-Sitzungen. Dann ist Eigenraum um jede Erscheinung, Ding, Wort, Gedanken, Traum. Wie gestern über den flaschengrünen Wellen des Halwilersees.
Radikale Übung zum Ausprobieren in den Sommerferien: Nimm den Dingen ihre Wörter weg. Gib dem, was du wahrnimmst nicht sofort und automatisch einen Namen/Etikett. Verzögere das Einordnen der wahrgenommenen Dinge. Versuche sie nicht auf Anhieb zu verstehen und einzuordnen. Sei einfach da und nimm direkt wahr, DAS WAS JETZT IST! Und dann schreib darüber!
Im Frühling, bei einem Spaziergang am Erusbach, habe ich mit diesem Experiment begonnen: ‚Ich halte im gehen inne, bleibe stehen und schaue. Etwas ist wunderbar violett. ‚Blüten‘, ‚das sind keine Veilchen‘. ‚Es sind Taubnesseln‘. Ich kann nicht mehr zurück, in die wilde Farbe, die ich soeben entdeckte – sobald ich sie mit «Taubnesseln»benenne. Nachdem sie schon ihre vorsprachliche Farbenpalette zu mir hinauf gestrahlt haben, war diese unsprachliche Farbe verloren.‘ Es sind ja nur Taubnesseln?‘
«Doch glühten mir Augenblicke lang im Aprilgras ihre zarten Blüten namenlos wie Orchideen im Urwald.»