Vom Schreiben
WILDNIS
Heute, an diesem warmen Sommermorgen, ging ich durch den Wald. Bin nur wenige Schritte vom Weg abgezweigt und dorthin gegangen, wo die Tannen dicht nebeneinander wachsen. Hier riecht es noch mehr nach Wald als auf dem breiten Waldweg. Wie ich diesen Wald-Geruch beschreiben könnte? Herabgefallene Tannennadeln, die auf dem Boden, unterstützt von Pilzen, eine Schicht des Vermoderns und des Neubeginns bilden. Feuchtigkeit, Teppich der Dunkelheit des Waldes, auf dem ich still gehe. Jetzt stehe ich zwischen den dicht wachsenden Baumstämmen. Etwas knackt. Dort hinten kommen drei Rehe aus dem Grünen, dem hellen Gebüsch. Sie gehen auf mich zu, dann seitwärts, hin und her zwischen den Stämmen der Tannen. Wie Scherenschnitt-Figuren heben sie sich vom Morgenlicht ab, das hinter den Tieren leuchtet. Der Bock mit den schönen kleinen Hörnern geht knapp hinter einem Reh, die Schnauze riecht an ihrem Hinterteil. „Aha!“ denkt es in mir, “deshalb bemerken sie mich nicht, sie sind abgelenkt.“ Abgelenkt von seinem wilden Trieb läuft der wohlgenährte Rehbock hinter einem der beiden Rehe her. Angelockt von ihrem Geruch, der ihm nur eines mitteilt: „Komm! Komm!“ Es ist ungewöhnlich viel Bewegung im Halbdunkel zwischen den dicht stehenden Baumstämmen. Jetzt springt er auf sie, Bewegung, dann ist es vorbei. Einfach, tierisch, wild. Als Betrachtende stehe ich schon lange unbeweglich an einen Baumstamm gelehnt. Die drei Waldtiere kommen näher.
Eines der Themen (Gedanken-Gebilde), über die ich in meinem neuen Roman meditiere, ist der Begriff der „Wildnis“. Im ersten Teil der Trilogie, dem im Frühling veröffentlichten Roman „Der Pilgerweg heim“, fand dieses Thema keinen Platz mehr. Es kommt dort nur einige Male kurz hervor, zum Beispiel im Kapitel „Silvias Garten“.
Diesmal habe ich „Wildnis“ zu einem der Kern-Wörter meiner Schreibarbeit gemacht. Wie wird Wildnis definiert? Was ist mir wild? Habe ich Wildnis in mir? Wo finde ich – die ich im Schweizer Mittelland lebe – Wildnis in meiner unmittelbaren Umgebung? Unter Wasser, in den Seen und Flüssen, unter einem uralten, lange am gleichen Ort gelegenen Holzbrett? In den Alpen, oberhalb der Baumgrenze? Dort ist noch an vielen Orten eine kaum genutzte Wildnis, zwischen Fels, Geröll, Pflanzen, die in diesen rauen Höhen noch leben können. Im Hochgebirge bin ich immer wieder erschreckt angesichts der scheinbaren Unbedingtheit der Landschaft, die nur bei Schönwetter einladend ist. Ansonsten aber leicht zur Todesfalle werden kann. Ist es das, was Wildnis ausmacht, das Risiko des möglicherweise Unbewältigbaren?
„Der Wald“ scheint uns oft so ein letzter Ort der Wildnis sein. Ich beschreibe ihn in meiner momentanen Arbeit als „versuchte Wildheit“. Denn auch dieser Wald, wie ich ihn in der Schweiz kenne, ist, außer in den Nationalparks, durchwegs benutzt, und wenn einige Hektaren Waldes hier sich selbst überlassen würden, entstünde nicht unbedingt gleich „Wildnis“ darin. Nutzwälder sind es, die ich auf meinen frühmorgendlichen Spaziergängen durchstreife. Es sind ordentlich aufgeräumten Waldstücke, zum Teil lieblich, zum Teil dunkel, mit wenig Gebüsch oder Blumen im Untergrund. Sind die Rehe, die ich heute früh beobachtet habe, in dieser „versuchten Wildnis“ so etwas wie die Haustiere des Waldes?
04.08.2015